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Ist Flucht die Lösung?

Lena hat eine 90-Stunden-Woche, ihr Freund Ulli Burnout. Beide brauchen eine Pause, hauen einfach ab. Doch ihre Probleme nehmen sie mit...

26. April 2019

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Manchmal ist das Leben ganz schön beschissen. In so einer Zeit würde man am liebsten alles hinschmeißen und abhauen. Was sich die wenigsten trauen, haben Lena und Ulli getan. Sie sind 22 Monate mit dem Land Rover durch Afrika gefahren. Dass die Reise eine Flucht war, die sie zwar näher zusammenbrachte, aber trotzdem ihre Beziehung zerstörte, merkten die beiden erst unterwegs.

Lena Wendt und Ulli Stirnat, beide 33

Ulli ist studierter Medizintechniker, Lena Fernsehjournalistin.

Im Februar 2014 ist Lena als TV-Journalistin erfolgreich, sieht gut aus, hat viele Freunde und einen lieben Freund, Ulli. Doch nach mehreren Drehs mit 90-Stunden-Wochen weiß sie nicht mehr wirklich, wer sie ist und was sie braucht. Hat sie es überhaupt jemals gewusst?

Da hat Ulli einen Zusammenbruch. Weil er seit Jahren das gemacht hat, von dem er dachte, dass er es machen muss. Studium zum Medizintechniker, Praktika, Arbeit, Arbeit.

Das bringt schließlich Sicherheit und Geld. Und das ist gut. Oder?

Ulli funktioniert, hinterfragt nicht. Hört nicht in sich hinein, verdrängt Stimmen im Kopf, die erst leise, aber dann immer lauter werden. Und fragen: Was tust du da nur? Das macht dich doch gar nicht glücklich! Für ein neues Projekt reißt er sich "den Arsch auf". An einem Samstagnachmittag fällt ihm beim Saubermachen der Staubsauger aus der Hand. Danach liegt er zwei Stunden auf dem Boden und weint.

Lena fährt mit ihrem Freund in die psychiatrische Notfallambulanz. "Ich hatte schon mal eine Freundin an eine Depression verloren und hatte unglaubliche Angst, dass er sich etwas antut", erzählt Lena im Interview mit ways2live.

2 Jahre auf 2 Quadrat-metern. Da nervt man sich schon mal an...

In den nächsten Wochen machen beide eine Therapie, reden viel. "Es war schnell klar, dass sich bei mir etwas verändern muss", sagt Ulli. Er kündigt.

Auch Lena macht sich viele Gedanken. "Ich habe mich gefragt, was in unserer Gesellschaft falsch läuft. Warum jemand, dem es eben noch vermeintlich gut ging, plötzlich im Bett liegt und zittert."

Irgendwann Lena hat eine Vision: eine lange Auszeit.

Wieder aus der neuen Wohnung ausziehen; einen gebrauchten Land Rover kaufen; mit dem Auto durch Westafrika fahren. "Das war schon immer mein Traum", sagt Lena. "Ich wusste: Afrika erdet mich. Warum also nicht sofort?"

Ulli gefällt Lenas Plan.

"Ablenken und all die Scheiße hinter mir lassen - ich dachte, dann geht es mir endlich gut", sagt er. "Woran ich nicht gedacht habe: dass meine Probleme dadurch nicht verschwinden."

Lena hingegen unterschätzt ihr Bedürfnis nach Freiraum.

Und so merken die zwei, die zu diesem Zeitpunkt erst neun Monate zusammen sind,  schnell, dass man sich selbst und seine Probleme überallhin mitnimmt. Und das auf nur zwei Quadratmetern im selben Auto, ohne Fluchtmöglichkeiten...

Afrika ist schön. Aber auch stressig...

Bereits auf dem Weg durch Europa kracht es - wegen Kleinigkeiten. Auch in Afrika wird die Stimmung nicht besser. Im Gegenteil.

So schön Afrika ist, so nett die Menschen sind - Hitze, Parasiten, Würmer, Militärkontrollen - das alles geht vor allem Ulli zusätzlich an die Substanz und die Nerven.

Kilometer um Kilometer merkt das Paar, wie unterschiedlich es eigentlich ist.

Lena ist lebensfroh und extrovertiert, umarmt Einheimische, tanzt, redet und kocht mit ihnen. "Die Locals in Westafrika freuen sich tierisch dass du dort bist, lachen, schenken dir Sachen und wollen einfach Zeit mir dir verbringen." Die damals 29-Jährige möchte alles einsaugen, abspeichern, den Moment genießen. Ulli ist anders. Ruhiger. Auch, weil er nach wie vor mit seinen dunklen Gedanken kämpft, braucht er Ruhe und will nicht ständig mit fremden Menschen reden. Die beiden nerven sich an, verlieren immer mehr den Respekt voreinander.

Lena fragt sich, warum Ulli die Reise nicht genießen kann wie sie. Ulli hingegen fühlt sich mit Reparaturen am Auto und der Organisation der Reise allein gelassen, die er mittlerweile fast komplett übernommen hat.

Heute, Jahre später, wissen sie, was sie damals falsch gemacht haben.

"Nie mal ehrlich über unsere Wünsche und Gefühle gesprochen", sagt Lena. "Wir kannten uns beide selbst nicht gut genug, um zu wissen, wo der Brandherd liegt. Wir haben nur die Symptome bekämpft, aber die Ursache nicht gefunden."

Kilometer um Kilometer merkt das Paar, wie unterschiedlich es eigentlich ist.

Nach neun Monaten spitzt sich die Lage zu. Zum Glück raffen sich die beiden noch einmal zusammen, denn kurze Zeit später finden einen Traumstrand. Bleiben wollen sie drei Wochen. Es werden sechs Monate daraus.

Ein halbes Jahr lang leben und arbeiten sie in einem Ökodorf in Ghana. Lernen, wie man mit lokalen Baumrinden, Sand, Erde und Bambus Häuser baut. Die beiden adoptieren einen Welpen, der sie wieder näher zusammenbringt. Sie verstehen sich gut, gehen surfen, neben Schildkröten im Wasser.

Doch das Paradies gibt es nicht...

Sie werden mit dem Tod konfrontiert. Es ist einfach zu viel. Uli kann nicht mehr, fliegt nachhause.

"Ich wollte meine Familie sehen, in einem richtigen Bett schlafen, Playstation spielen. Doch schon nach drei Tagen war die Freude darüber vorbei. Ich wurde sofort wieder in meine Rolle von früher reingezwängt. Da hat sich alles in mir wieder verkrampft."

Ulli erkennt, welchen unschätzbaren Wert die Reise trotz allem für ihn hat. Wie sehr ihn die letzten 13 Monate verändert haben. "Raus aus dem Alltag, aus dem Käfig, das war schon genau das Richtige." Er fliegt zurück, er und Lena fahren noch ein halbes Jahr weiter. Es läuft besser. Ulli konzentriert sich auf das Schöne, lässt sich von der Lebensfreude der Locals mitreißen.

"In Europa geht es uns finanziell so gut, dass wir in Trinkwasser scheißen."

Dennoch seien viele Menschen in Westafrika zufriedener gewesen, als so manche, die in Europa leben und viel Geld haben.

Haben die Erfahrungen der Reise Ulli geheilt? "Burnout oder eine Depression kann man nicht wirklich heilen", sagt Ulli. "Diese Erfahrung prägt und begleitet dich dein Leben lang. Aber die Reise hat mir Selbstbewusstsein gegeben, im wahrsten Sinne: Bewusstsein für mich selbst. Auch die Zeit danach."

Die Zeit nach der Rückkehr war für Ulli und Lena genau so wichtig wie die Reise selbst.

Es war klar, dass sie nicht in ihr altes Leben zurückwollten. Doch was sie wollten im Leben, dass wussten sie auch jetzt nicht richtig.

In Afrika waren sie durch den Alltagstrubel nicht wirklich zum Nachdenken gekommen.

Um zu sich zu kommen, starten Ulli und Lena mit Meditation. Beide machen Vipassana, eine 10 Tage andauernde Meditation, bei der nicht gesprochen wird.

Für beide der Durchbruch.

Ulli stellt sich zum ersten Mal in seinem Leben seinen wirklichen Gefühlen, bekommt Zugang zu sich selbst.

 

 

Lena lernt, dass sie ihr Glück bislang nur im Außen gesucht hat.

"Ich habe immer geglaubt, wenn ich den perfekten Partner gefunden habe, den perfekten Job, Strand, dann ist alles gut. Doch ich bin nie angekommen. Meine Themen haben mich immer verfolgt. Durch Vipassana ist mir klar geworden, was ich mir selbst antue, wie knallhart ich mit mir bin. Und dass mich das unglücklich macht. Ich war nie nett zu mir. Aber das ist genau der Schlüssel: Selbstliebe!

Alles ist schon jetzt genau richtig, wie es ist.

Wenn ich mich selbst lieb habe, dann tue ich mir die schlechten Sachen gar nicht mehr an: 90-Stunden-Wochen oder Freunde, die mir nicht gut tun. Wenn ich bei mir bin, habe ich mehr Respekt für mich - und dadurch auch für andere. Heute kann ich akzeptieren, dass andere Menschen auch andere Bedürfnisse haben. Ich habe jetzt auch mehr Respekt vor Ulli. Weil ich ja will, dass er gut zu sich selbst ist, und akzeptiere, dass auch er seine Grenzen hat."

"Die Reise war nicht die Antwort, aber sie hat die Voraussetzungen geschaffen, um genau auf diesen Weg zu kommen", sagt Ulli. "Lena und ich mussten uns aneinander reiben, uns gegenseitig den Spiegel vorhalten. Das war wichtig."

Lena und Ulli sind kein Paar mehr. Aber sie schließen beide auch nicht aus, dass sich das bald wieder ändert...

 

Lenas und Ullis Reisedokumentation "Reiss aus" über ihren Trip ist derzeit im Kino zu sehen.

Text

Jennifer Köllen

Bild

Lena und Ulli

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